Kapitel 9: Grammatik, oder: das Netzwerk sprachlicher Zeichen (3)

9.1. Morphem als sprachliches Zeichen

9.1.1. These

Die 'Ausgestaltung' einer sprachlichen 'Einheit' (Lexem, Phrase usw.) kann nur durch funktional homogene Mittel erfolgen:

[X mit Ex] → [X mit Ex]:[M mit Ex]

Lies: Wird ein Element X mit X-typischen Eigenschaften 'erweitert', kann dies nur durch Elemente (M) geschehen, die ebenfalls X-typische Eigenschaften aufweisen.

→ Wenn X ein 'sprachliches Zeichen' ist, dann müssen Morpheme ebenfalls sprachliche Zeichen sein.

Etwa:

Basiseinheit + Gestaltung Wert des Gestaltenden
[thiš] + Geste Nicht morphologisch
[thiš] + TonvariationMorphophonologisch/prosodisch (systemabhängig)
[thiš] + Augenbraue hoch Nicht morphologisch
[thiš] + [e] Morphologisch

Sprachliches Zeichen (SZ):

Sprachliches Zeichen

→ 'Zwei Seiten einer Medaille':

V ist nur Teil von SZ, wenn A vorhanden.
A ist nur Teil von SZ, wenn V vorhanden.
SZ ist nur, wenn A und V gekoppelt sind.

9.1.2. Definition von Morphem

Ein Morphem ist ein nicht autonomes sprachliches Zeichen, das ein gegebenes sprachliches Zeichen oder dessen phrasales Schema ko(n)textbedingt ausgestaltet oder das den signifié-Bereich eines sprachlichen Zeichens variiert.

a.

Definition Morphem eins

b.

Definition Morphem zwei

Wdh.:

Der Typ (a) heißt Flexionsmorpohologie (das sprachliche Zeichen wird zum Ko(n)text hin 'gebeugt')

Der Typ (b) heißt Derivationsmorphologie (das sprachliche Zeichen wird semantisch variiert).

Im Folgenden zunächst Typ (a):

Ko(n)text ist in der Regel nicht als festes Vorstellungsraum fixiert, sondern über 'Kategorien':

Ko(n)text und Kategorien

Analog: Autonome sprachliche Zeichen werden in der Regel kategoriell verarbeitet:

Kategorie und Sprachliches Zeichen

9.1.3. Kategorientypen

Definition: Eine Kategorie wird von einer 'Klasse' von Elementen gebildet, die aufgrund als gemeinsam konstruierter/erfahrener/beobachteter (etc.) Formen, Eigenschaften, Funktionen oder historischer Bedingungen etc. in einen motivierten Zusammenhang gestellt werden. Dabei spiegelt der Kategorienname als Zeichen diese Gemeinsamkeit(en) wider.

Kategorialer Raum

Kategorienname ist das sprachliche Zeichen einer Kategorie:

Kategorienname

Nota: Kategorien können, müssen aber nicht 'benamt' sein.

  1. Disjunkt:

    Jedes Element wird genau einer Kategorie zugeordnet:

    Etwa:

    Mensch Lebewesen
    Stein Kein Lebewesen, aber Objekt
    Liebe Kein Lebewesen, kein Objekt
    usw.

  2. Prototypisch:

    Ein Element wird einer Kategorie zugeordnet, die die meisten/besten (prototypischsten) Eigenschaften des Elements repräsentiert.

    Etwa:

    Amsel Vogel (stark prototypisch)
    Huhn Vogel (weniger stark prototypisch)
    Pinguin Vogel (schwach prototypisch)

  3. Familienähnlich:

    Ein Element wird aufgrund eines oder mehrerer Merkmale, die es mit einem anderen Nachbar-Element teilt in eine Kategorie eingeordnet, deren Elemente sich über eine solche Nachbar-Beziehung definieren:

    Familienähnlichkeit
    Kategorie der Verwandtschaft
  4. Radial

    Elemente werden einer Kategorie zugeordnet, die nicht über 'intrinsische' (im Objekt enthaltene) Eigenschaften definiert ist, sondern über gemeinsame, mit den Elementen verbundene Gebrauchstraditionen, Vorstellungen, soziale Assoziationen, Mythen etc.

    Beispiel: Dyirbal (NO-Australien)

    Klasse II der Nomina:

    Women, fire, and dangerous things (vgl. Dixon 1972, Lakoff 1987)

    Radiale Kategorien

Flexionsmorpheme sind also sprachliche Zeichen, deren signifié-Bereich eine Kategorie (Typ 1-4) des Ko(n)texts repräsentiert.

Morpheme und Kategorien

Vertreten mehrere Morpheme dieselbe Kategorie, bilden sie ein Paradigma dieser Kategorie

Paradigmata einer Kategorie

Da sich M1 bis (hier) M3 aber unterscheiden, müssen sie hinsichtlich einer anderen Kategorie unterschiedlich sein!

Vgl. Latein (Ausschnitt, vereinfacht):

Kategorien im Latein, Beispiel

9.1.4. Linguistische Kategorien

Linguistische Kategorien sind zunächst reine Deskriptoren von Klassen, die qua Beobachtung erstellt werden (einfacher Strukturalismus).

Zunächst intuitiv werden sie mit mentalen (kognitiven) Kategorien (signifié-Bereiche der Morphologie) verbunden.

In einem zweiten Schritt werden die kognitiven Kategorien charakterisiert und es wird versucht, eine unmittelbare Beschreibung zu erreichen:

Linguistische Kategorien

NOTA: Die Terminologie linguistischer (Beschreibungs-)Kategorien und 'kognitiver' Vorstellungskategorien kann sich unterscheiden:

Kognitiv: ZEIT/TIME MODALITÄT PERSONALITÄT POSSSESSOR
Linguistisch: TEMPUS MODUS PERSON GENITIV (u.a.)

In vielen Fällen gibt es bislang nur 'linguistische' Termini: Nominativ, Akkusativ etc.

9.1.5. Zur Beziehung von Lexem und Morphem

Lexeme repräsentieren als sprachliche Zeichen feste Vorstellungen über Referenten/Objekte und deren Einbettung in Ereignisse:

Objekt- und Ereignisvorstellungen

Morpheme repräsentieren kategorielle Vorstellungen (s.o.):

kategorielle Vorstellungen

Grammatikalisierung:

Lexikalische Einheiten werden zu Morphemen uminterpretiert. Dabei kann (!) der kategorielle Raum, dem eine Objekt- oder Ereignisvorstellung zugeordnet ist, durch die Signifiant der eigentlicher Objekt- oder Ereignisvorstellung ausgedrückt werden:

Signifiant drückt kategoriellen Raum aus

Jetzt ist das Signifiant [hier: A(L)] dem Signifié [Kategorie(SZ)] zugeordnet, nicht mehr [V(L)].

→ Meronyme Extension: Das Teil steht für das Ganze.

Folge: Das Signifiant A(L) kann auch mit anderen Objekt-/Ereignisvorstellungen, die derselben Kategorie zugeordnet sind, auftreten.

Signifiant und Kategorien

Häufiger Grammatikalisierungsweg:

Lexem [→ Derivation] Flexion

Schematisch:

Grammatikalisierungsweg schematisch

NOTA: Grammatikalisierung als 'Morphem' hat häufig die Reduktion der Signifiant-Seite zur Folge, vgl.

du gehst ← *du gehs-du [nicht-diachrone Schreibung/ alternative Deutung möglich!]

Kopplung von Derivation und Flexion, etwa Türkisch:

Kopplung Derivation und Flexion im Türkischen

ev-ler-im-den
house-PL-1Sg:POSS-LOC
'von meinen Häusern'

Kompatibilität

Eine morphologische Gestalterweiterung setzt semantische (vorstellungsbezogene) Kompatibilität der beiden Domänen voraus:

Türkisch:

Kompabilität Türkisch

Deutsch:

Kompabilität Deutsch

Dies bedeutet, dass Morphologie auf eine kategorielle Domäne der Basiseinheit 'abzielt' bzw. diese markiert:

Morphologie und Kategorie

Will heißen: Da Morphologie im signifié-Bereich 'Kategorien' abbilden und keine individuierten Vorstellungen, sind sie dann mit einer Vorstellung (ausgedrückt in einer Basiseineinheit) kompatibel, wenn sie sich auf einen kategoriellen Aspekt der in der Basiseinheit ausgedrückten Vorstellung beziehen.

Etwa:

Kategorieller Aspekt

ev-ler-im-den
house-PL-1Sg:POSS-LOC
'von meinen Häusern'

Ergo (wdh.): Der kategorielle Bereich (signifié) eines Morphems muss kompatibel sein mit dem/einem kategoriellen Bereich der Vorstellung (signifié) des betreffenden Lexems.

Daher geht (Latein): amic-orum
friend-PL
aber nicht: ven-i
*come-PL (recte: come-1Sg:PERF)

Nota: Die Frage, welche Morpheme mit welchen kategoriellen Räumen von Lexemen verbindbar sind, ist einzelsprachlich geregelt, obschon es universelle Tendenzen gibt.

Vgl.

Deutsch: *sein wird=Haustier
*3sg:POSS FUT:3Sg-Haustier
Guaraní: i-mymba-rã
3sg:POSS-Haustier-FUT/PROSP
'sein zukünftiges Haustier' [ Tonhauser 2006:210]
oder:
Türkisch: ev-ler
Haus-PL
'(Die) Häuser'
git-ti-ler
gehen-PAST:3Sg-PL
'sie gingen'
Deutsch: Tisch-e
Tisch-PL
*sag-e
*sagen-PL

9.2. Allomorphie, Polysemie, Homophonie

9.2.1. Ausgangspunkt

Ein (Flexions-)Morphem wird über Funktion und Kategorie bestimmt:
Funktion: Abbildung von bzw. Bezug auf Ko(n)text-Eigenschaften
Kategorie: Abbildung von kategorialen Eigenschaften der lexikalischen 'Basiseinheit'
[Lexikalische Basiseinheit = 'Host' im weiten Sinne des Terminus]

Allomorphie, Polysemie und Homophonie

Beispiele (Deutsch)

1.

Allomorphie etc Beispiel Deutsch

NOTA 1:

Nominale Ausdrücke können nach mindestens drei Typen kategorisiert werden (sprachabhängig) [vgl. Jan Rijkhoff. The noun phrase. Oxford: Oxford University Press 2002. (Oxford Studies in Typology and Linguistic Theory)]

  1. Singular Object Nouns (SON): Die 'Voreinstellung' ist 'Singular', d.h. Objektvorstellungen (→ Nomina) werden als Elemente (einer Menge) verarbeitet, also individuiert.
  2. Set Nouns: Die 'Voreinstellung' ist 'Menge' (set), d.h. Objektvorstellungen (→ Nomina) werden als Ausdrücke einer Menge (von X) verarbeitet.
  3. Sort Nouns: Objektvorstellungen werden (wenn quantifiziert/gezählt, seltener wenn qualifiziert/attribuiert) mit einem 'Marker' versehen, der ihre 'Sorte' anzeigt (Nominalklassifikatoren).

a. SON:

SON Singular
SON Plural
SON Kollektiv

b. SET NOUNS:

Set Noun normal
Set Noun Singular
Set Noun Plural

NOTA 2:

P-or ~ P-um [vgl. ausführlicher http://www.lrz-muenchen.de/~wschulze/WS0708/kapro7.pdf ]

P-or = Possessor: Dasjenige Konzept, das als 'Besitzer von X' fungiert.
P-um = Possessum: Dasjenige Konzept, das als 'x eines Besitzers' fungiert.

→ P-um stellt also den Kotext von P-or.

Beispiel 2 (Türkisch)

Allomorphie etc Beispiel Türkisch

NOTA:

EV = Ereignisvorstellung (Basistruktur: ℜ → ℜ)
ROLE:A = (Qualifiziert für:) Agentive Rolle

9.2.2. ALLO-Strukturen

Zwei Typen:

a. Die Artikulationsseite eines morphologischen sprachlichen Zeichens (Morphems), also das MORPH hat Varianten, ohne dass sich die Konzeptseite (Kategorie/Funktion) des Morphems ändert.

b. Die Konzeptseite (Kategorie/Funktion) eines morphologischen sprachlichen Zeichens (Morphems) hat Varianten, ohne dass sich die Artikulationsseite (also das MORPH) ändert.

Typ a: → ALLOMPORH

Allomorph

Beispiel (Deutsch, Auswahl, UL = Umlaut]:

Allomorph Beispiel Deutsch

Türkisch:

Allomorph Beispiel Türkisch

→ Drei Typen der Allomorphie

  1. Motiviert durch Anpassung an Artikulation (signifiant) des Basislexems (host), vgl. Türkisches Beispiel, hier Vokalharmonie (Vierer-Reihe):
    Stammvokal Suffixvokal
    [i], [e][i] {-i-}
    [a], [ı][ı] {-ı-}
    [o], [u][u] {-u-}
    [y], [œ][y] {-ü-}

    Analog: Türkischer Ablativ: /-TAn/

    ev-den house-ABL von dem Haus
    at-tan horse-ABL vom dem Pferd
    iş-tenwork-ABL von der Arbeit
    ağız-dan mouth-ABL von dem Mund

    Vokalharmonie (Zweier-Reihe)

    Stammvokal Suffixvokal
    [i], [e], [y], [œ] [e]
    [a], [ı], [o], [u][a]

    Assimilation:

    Lexikalischer Auslaut Suffixanlaut
    [sth] [sth]
    [stl] [stl]
  2. Lexikalisch motiviert: Die Lexeme (hosts) selbst bestimmen über die Auswahl des Allomorphs (vgl. deutsches Beispiel)

    NOTA: Lexikalische Motivation geht oft auf historisch/ehemals artikulatorisch bedingte Motivation zurück.

  3. Teil-Allomorphie: Eine Morphem hat mehrere artikulatorische Varianten, die aber nur für einen Teil der kategorialen/funktionalen Ebene gelten. Teil-Allomorphien sind besonders häufig in fusionierenden Sprachen.

    Beispiel:

    (sie) sag-Ø-t vs. (sie) sag-te-Ø
    say-PRES-3Sg say-PAST-3Sg

    Hier ist -t vs. allomorph in Bezug auf die 'Person' (3Sg), aber morphemisch in Bezug auf die Dimension 'ZEIT'.

    Dimension Zeit

    Analog: Definiter Artikel {Nominativ; Singular} im Deutschen:

    Definiter Artikel im Deutschen

TYP 2 → Polysemie / Homophonie (~Homonymie)

Homophonie (auch: Homonymie): Ein (hier:) Morphem hat eine Artikulation (Morph), aber mehrere Konzeptbereiche, die nicht mit einander 'verwandt' sind (vgl. lexikalisch [Deutsch] Ball: 1. bewegliche Kugelgestalt; 2. Tanzereignis).

Homophonie
Nota zur Homophonie

Wenn zwei oder mehrere konzeptuelle Domänen (Kategorien/Funktionen) mit einander verwandt sind, ist oftmals eine Frage der linguistischen Theorie. In vielen Fällen muss die Vermutung einer Nicht-Verwandtschaft als vorläufig angesehen werden, weil die zugrunde liegende Verwandtschaft (noch) nicht entdeckt ist, vgl. Deutsch (Ausschnitt) definiter Artikel + -er (Singular, Feminin) :

Homophonie Beispiel Deutsch

Ebenso:

Dyirbal -gu (Ausschnitt)

Homophonie Beispiel Dyirbal

Ergo: Die Bestimmung von nicht-Verwandtschaft zweier oder mehrerer kategorialer oder funktionaler Dimensionen erfordert ein Wissen um nicht vereinbare Eigenschaften dieser Dimensionen, etwa:

→ "Deutsch -er (Artikel Singular, Feminin) ist homophon, weil im Maskulinum Genitiv und Dativ unterschieden werden."
→ "Dyirbal -gu ist homophon, weil die Wortarten der beiden host-Typen (Nomen → Dativ), Verb → Finalis) grundsätzlich unterschiedlich sind."
[Splitting]

THESE: In vielen Fällen sind homophone Morpheme nichts naderes als Polysemien (s.u.), deren interne Struktur ('Verwandtschaft der Segmente') nicht nicht erkannt ist. (sog. Lumping)

→ Typ 3: Polysemie

Ein Morphem hat eine Form (Morph) oder eine Reihe von Allomorphen, die zwei oder mehrere mit einander verwandte Konzeptbereiche symbolisieren.

Latein -m (Singular)

Polysemie Latein

E.g.:

amic-usamic-a-m vide-t
friend-M:SG:NOM friend-F-SG:ACC see-3Sg:PRES
'der Freund sieht die Freundin.'

amic-usRoma-mveni-t
friend-M:SG:NOM Rome:F-SG:ACC~ALLcome-3Sg:PRES
'Der Freund kommt nach Rom.'

Unter Einschluss von Neutrum:

templu-min urb-esta-t
temple-N:SG:NOM in town-F:SG:ABL/LOC stand-3Sg:PRES
'Der Tempel steht in der Stadt.'

Polysemie Latein mit Neutrum

Vereinfacht:

Polysemie Latein vereinfacht

[voriges Kapitel] [Inhaltsverzeichnis] [nächstes Kapitel]