Kapitel 8: Grammatik, oder: das Netzwerk sprachlicher Zeichen (2)

8.1. Morphologie (2)

8.1.1. Morphologie und kognitive Kategorien

Morphologie ist ein spezielles 'Verfahren' der Symbolisierung ko(n)textueller und pragmatischer Größen.

Wdh.:

Kotext: Die sprachliche Umgebung eines sprachlichen Zeichens
Kontext: Die Einbettung eines sprachlichen Zeichens in eine außersprachliche Wissensebene.
Pragmatik: Die Einbettung eines sprachlichen Zeichens in einen Gebrauchszusammenhang (Intention, Information, Wirkungsbezug usw.)

Diese Bezugsgrößen sind Teil der kognitiven Kategorisierung sprachlicher Zeichen:

kognitive Kategorisierung sprachlicher Zeichen

Somit ergeben sich:

Kognitive Kategorien des Kotexts
Kognitive Kategorien des Kontexts
Kognitive Kategorie der Pragmatik

Diese Kategorien können, müssen aber nicht sprachbezogen symbolisiert sein. Wenn sie derartig symbolisiert sind (als sprachliche Zeichen), dann handelt es sich um eine 'linguistische Kategorie' oder um eine 'kognitive grammatische Kategorie' (im weiteren Sinne):

kognitive grammatische Kategorie

Der Signifié-Bereich (Kognitive grammatische Kategorie) ist in der Regel relativ (!) stark generalisiert ('abstrakt'), um die Verarbeitung eines sprachlichen Zeichens über seinen Ko(n)text etc. zu beschleunigen.

Die signifiant-Ebene kann heterogen erscheinen, etwa:

Aufteilung kognitiver Kategorien

8.1.2. Grammatikalisierung

Nota: Wenn eine kognitive grammatische Kategorie über ein substantielles (nicht strukturelles) sprachliches Zeichen symbolisiert wird, basiert dieses in der Regel (!) (historisch) auf der Generalisierung eines 'passenden' sprachlichen Zeichens, d.h. es gibt (kaum?) sprachliche Zeichen, die kognitive grammatische Kategorien sui generis bezeichnen.

Kognitive Kategorie aus Konzept

Der Übergang KONZEPT → KogGramKat ist fließend und bedeutet eine zunehmende 'Generalisierung' des eigentlichen Konzeptbereichs, etwa:

GESTERN VERGANGEN VERGANGENHEIT
MORGEN KOMMEND ZUKUNFT
GEHEN WERDEN (gram. AUX)
HABEN PERFEKT (Dt.)

Terminologisch: GRAMMATIKALISIERUNG

Nota: Die Grammatikalisierung kann auf der signifiant-Seite durch eine (oft) Verkürzung oder Veränderung des sprachlichen Ausdrucks angezeigt sein, also:

Grammatikalisierung und Kognitive Kategorien

Vgl.: Sächsischer Genitiv (Englisch):

the man's hat < the man [hi]s hat

Mit Grammatikalisierung:

Sächsischer Genitiv

[vgl. The woman's hat // *the woman her hat < *the woman'r hat]

TECHNISCH: LEXEM → GRAM[EM]

Morphologie beschreibt also das Ensemble grammatikalisierter sprachlicher Zeichen des Ausdrucks kognitiver grammatischer Kategorien.

Dabei gilt:

Kognitive Kategorien und Morpheme

8.1.3. Allomorphie

Ein sprachliches Zeichen {Morphem} hat als signifié eine kognitive grammatische Kategorie, die mit mehreren Ausdrucksformen gekoppelt ist:

Allomorphie

Etwa:

Deutsch: KogGramKat: <PLURAL>
FORM [-e, -er, -s usw.]
Latein: KogGramKat: <PERFEKT>
FORM [-v-, -s- usw.]

NOTA: Allomorphie kann die Morphologie überschreiten:

Deutsch KogGramKat <POSS> ~ [GEN]
FORM [-s], von + DAT, DAT + PRO usw.
Englisch: KogGramKat <COMPARATIVE>
FORM [-er], more

Technik der morphologischen Analyse: Paradigmatik:

K'iche' (Maya)

kinach’ayodu schlägst michkewa’iksie essen
kinawachib’ilaajdu begleitest michkatwachib’ilaajich begleite dich
katnuch’ayo ich schlage dich kewa’ik sie essen
katwa’ik du isst katuch’ayo er schlägt dich
kawa’ik er isst kixwa’ik ihr esst
xojwa’ik wir haben gegessen keb’ich’ayo ihr schlagt sie
xojkich’ayosie haben uns geschlagenkojich’ayoihr schlagt uns
keqach’ayowir schlagen siexchinwa’ikich werde essen
xinwa’ik ich habe gegessen kinwa’ik ich esse
katrachib’ilaajer begleitet dichxchixrachib’ilaajer wird euch begleiten

Lexeme in den Beispielformen:

ch’ayo schlagen
achib’ilaaj begleiten
wa’ik essen

Temporale Präfixe:

PRES k-
PAST x-
FUT xch-

Personale Präfixe:

S/O A
1SG -in- -nu-, vor Vokal: -w-
2SG -at- -a-, vor Vokal: -aw-
3SG -a- -u-, vor Vokal: -r-
1PL -oj- -qa-
2PL -ix- -b’i-, nach Konsonant: -i-
3PL -e- -ki-

8.1.4. Derivationsmorphologie vs. Flexionsmorphologie

Flexionsmorphologie ist ko(n)text-gesteuert.
Derivationsmorphologie variiert den signifié-bereich eines sprachlichen Zeichens selbst.

Oder:

Flexionsmorphologie: ADDITIV Derivationsmorphologie: MANIPULATIV

Beispiel, hier rein synchron:

Beispiel für Morphologie

Nota: Innerhalb der 'Grammatik' zählen hierzu oft auch overte (offene), am Nomen/Pronomen durchgeführt Genus/Klassen-Markierung, etwa lat. amic-us vs. amic-a, und die Numerusbildung (e.g. Plural).

Dagegen Flexion:

hier : Konkretisierung ('Verdeutlichung') der ko-textuellen Beziehungen (Morphosyntax):

Schematisch:

Flexion und Morphosyntax

Beispiel:

Schmetterling der Morphosyntax Latein
-us: Nominativ Singular Maskulin konkretisiert die Kasus-'Erwartung' des Verbs.
-em: Nominativ Singular nNeutrum konkretisiert die Kasus-'Erwartung' des Verbs.
-t: Konkretisiert einen aktantiellen Bereich (amic-) im Verb.

NOTA:
Morphologie ist ein sprachlicher 'Luxus', der nichtsdestotrotz Funktion hat. Nicht alle Sprachen haben dieselben morphologisch markierten Kategorien. Was in der einen Sprache morphologisch ausgedrückt wird, kann in der anderen Sprache a) über andere Verfahren (e.g. Syntax, Lexikon) dargestellt werden oder b) sprachlich 'fehlen' (d.h. nur über den Kontext kodiert sein (→ Inferenz)).

8.1.5. Der 'Große Zyklus' (Grand Cycle)

  1. Isolierend: Sprachen, die keinerlei 'Morphologie' aufweisen (d.h. diesbezüglich keine Grammatikalisierung im obigen Sinn durchgeführt haben).

    Beispiel: Vietnamesisch:

    Sáng sớm đó lúc
    Morgen früh DX sein Zeit
    các nông=trąi viên đi quanh chuồng gà.
    wo all Farm Arbeiter gehen herum Stall Huhn
    'Morgens ist/war die Zeit, wo dieFarmarbeiter im Hühnerstall herumgehen/gingen.'
    [Satz nach http://www.vietnamese-grammar.group.shef.ac.uk/VGP/notes/basicsyntax-n.html Analyse und Übersetzung: W.S.]

    Con cùng con =cái đi trên
    Ich und Kinder gehen auf
    con tàu con đêˀ vào Nam.
    CLASS Schiff klein um=zu fahren Süden
    'Ich und die Kinder gehen/gingen auf ein kleines Schiff um nach Süden zu fahren.'
    [Satz nach http://tinhhoavietnam.net/PHP-Nuke/modules.php?name=News&file=article&sid=7; Analyse und Übersetzung: W.S.]

  2. Morphologisch markierende Systeme:
    1. Lineare Systeme: Morpheme stehen in einer Linie mit Lexemen:
      1. Agglutinierend ('anleimend'): Jede 'Kategorie' hat genau eine morphologische Entsprechung (hier stark idealisiert formuliert). Die so entstehenden Morphemketten haben oft ihre eigene Ordnung (Syntax) [Stellungsregelung der Morphemen].
        Verhältnis Form : Funktion: 1:1

        Beispiel: Quechua (San Martin, Nordperu)

        yacha-nki-chu ishkay ullku shamu-yka-na-n-kuna-ta
        wissen-2sg-INT zwei Mann kommen-DUR-NOM-3-PL-ACC
        'Weißt du, dass zwei Männer kommen?'
        (Renate Lakämper 2000. Plural- und Objektmarkierung in Quechua (Dissertation U Düsseldorf), p.178

      2. Flektierend ('Beugend'), auch synthetisch oder fusionierend:
        Ausgangspunkt:
        Eine Form ↔ Mehrere Funktionen (1 : n)
        Eine Funktion ↔ Mehrere Formen (m : 1)

        Ergebnis: m:n-Sprachen, wobei eine Form mehr als nur eine Kategorie 'beinhalten' kann.

        Beispiel: Latein:

        Galli-a est omn-is
        Gallien-NOM:FEM sein:3sg:PRES:IND ganz-NOM:SG:FEM
        divi-s-a in part-es tres,
        teilen-PERF-NOM:SG:FEM in Teil-ACC:PL:FEM drei
        qu-arum un-am in-col-unt Belg-ae
        REL-GEN:PL:FEM ein-ACC:SG:FEM PV-bebauen-3pl:PRES:IND Belgier-NOM:PL[:FEM]
        'Gallien ist in der Gesamtheit geteilt in drei Teile, von denen den einen die Belgier bewohnen….'
        [Caesar, De Bello Gallico I,1].

      3. Analytisch: Die grammatischen Informationen werden nach 'Hilfsstrukturen (< Lexeme) 'exportiert' (technisch meist flektierend, aber auch Agglutination möglich).

        Beispiel: Deutsch (Auxiliar-Strukturen sind fett markiert):

        Ich werd-e d-as Buch
        ich:NOM AUX-1sg:PRES:IND AUX:ART-ACC:SG:NEUTR Buch
        von Hans kaufen,
        AUX:POSS Hans kaufen
        weil ich es lesen soll
        KONJ ich:NOM ANAPH:SG:NEUTR lesen AUX:MOD-1sg:PRES

    2. Nicht-lineare Systeme (Morpheme sind nicht gereiht, sondern stellen sich als lautliche Varianz von Lautelementen des Lexems dar, e.g. Ablaut). Meist mit Flexion, Agglutination oder Analyse gekoppelt!

      Beispiel: Klassisches Arabisch:

      daal-a ğaiš-u ´l’-amri ´l-madnat-a
      betreten:PERF-3sg Heer:SG-NOM ART-Emir-GEN ART-Stadt:SG-ACC
      mina ´š-šamāl-i fa-ḫarağ-a ğund-u
      von ART-Norden-GEN so-verlassen:PERF-3sg Soldat:PL-NOM
      ´l-malik-i mina ´l-ğanūb-i
      ART-König:SG-GEN von ART-Süden-GEN
      wa-tarak-ū ´s-sukkān-a
      und-lassen:PERF-3pl:MASC ART-Bewohner:PL-ACC
      li-suyf-i ´l-’aˤcd’-i.
      für-Schwert:PL-GEN ART-Feind:PL-GEN
      'Das Heer des Emirs betrat die Stadt von Norden, und so verließen die Soldaten des Königs (sie) von Süden aus und überließen die Bewohner den Schwertern der Feinde.'
      [Haywood/Nahmad 1965:91; Übersetzung und Analyse: W.S.]

Der 'Große Zyklus' (idealisiert):

Großer Zyklus

NOTA 1: Der Große Zyklus erlaubt keine Vorhersage über Sprachwandel, sondern bildet nur eine Tendenz ab. Es gibt eine Vielzahl von Abweichungen und 'Rück- und Sonderentwicklungen' (e.g. von FLEKT > AGGL im Ossetischen (NO-Iranisch im Nordkaukasus)….

NOTA 2: Der oftmals polysynthetisch oder (nicht ganz identisch) inkorporierendgenannte 'Typ' ist ein syntaktischer Sonderfall der oben genannten Typen, kein eigenständiger Typ! [vgl. Morphologie II].

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