Kapitel 1: Was ist Sprache?

1.1. Einige (nicht notwendigerweise zutreffende!) Zitate

Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache, und wir haben sie, um zu sprechen. Theodor Fontane, Unwiederbringlich (Romane und Erzählungen, hrsgg. von Peter Goldammer, Gotthard Erler, Anita Golz und Jürgen Jahn, 2. Auflage, Berlin und Weimar: Aufbau, 1973. Band 6, Kap. 13 [p.99])

Schon als Tier hat der Mensch Sprache. Alle heftigen, und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starke Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde, unartikulierte Laute. Johann Gottfried von Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772, 1. Teil, 1. Abschnitt [p.127])

In a sense, language is conception, and conception is the frame of perception. [In gewissem Sinne ist Sprache Vorstellung und die Vorstellung der Rahmen der Wahrnehmung.] Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key - A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art. (1942 [third ed. 1957], p.126. [Deutsch: "Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst", Frankfurt am Main (Fischer Taschenbuch) 1984])

Aber die Sprache um ein Wort ärmer machen heißt das Denken der Nation um einen Begriff ärmer machen. Arthur Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung. ([Zürcher Ausgabe]. Werke in zehn Bänden. Band 1, Zürich 1977. Zweiter Band, Ergänzungen zum ersten Buch, zweite Hälfte, Kapitel 12. [p.147])

Je höher die Kultur, desto reicher die Sprache. Anton Tschechow (Brief an A.S. Suvorin (12. Oktober 1892))

Si ea investigemus quae plurimis linguis communia sunt, ad linguam aliquam universalem deducemur. Johann Heuman, Meditatio de grammatica universali. (In: Opuscula quibus varia iuris germanici itemque historica et philologica argumenta explicantur. Nürnberg: Lochner 1747:472)


1.2. Was ist Sprache?

1.2.1. Vier Ebenen der Definition von Sprache (die vier Kausalitäten des Aristoteles, Physik II 3)

Die Ebenen der Definition von Sprache

Zuordnungen (stark vereinfacht):

causa efficiens:
Sprache ist, wie sie ist, weil:
  • etwas anderes sie (ständig) bewirkt
  • etwas in der Evolution 'passiert' ist, auf dass Sprache entstanden ist.

causa finalis:
Sprache ist, wie sie ist, weil:
  • die Wesen diese für bestimmte, schon vorhandene Zwecke entwickelt/ausgeprägt haben (e.g. Kommunikation).

causa materialis:
Sprache ist, wie sie ist, weil:
  • sie eine bestimmte, ihr eigenen Form hat (e.g. Artikulation).

causa formalis:
Sprache ist, wie sie ist, weil:
  • sie über eine spezifische interne, spezifische (!) Struktur verfügt (e.g. Syntax).

1.2.2. Beobachtungen

  1. Alle Menschen 'haben' Sprache, die sich im 2. Lebensjahr auszuprägen beginnt (es sei denn, diese Ausprägung ist durch pathologische oder soziale Faktoren gestört/behindert).
  2. Sprache ist kein vitales Moment: Menschen leben auch ohne Sprache.
  3. Das, was wir 'Sprache' nennen, kann verschieden aufscheinen (→ Sprachen), ist aber dasselbe, nur anders, da in Bezug auf 'etwas' größtenteils 'übersetzbar'.
  4. Jeder Mensch kann eine Sprache für sich entwickeln.
  5. Einzelne Sprachen werden gelernt, nicht aber die Sprechfähigkeit.
  6. Sprechen erlaubt den Menschen, sich zu sozialisieren. Dabei ist Sprache aber nicht die Voraussetzung der Sozialisierung. Sozialisierung bedeutet die (variante) Adaption (Imitation) gegebener Verhaltens- und Handlungsmuster.
  7. Sprechen ist eine Verhaltens-/Handlungsform von Individuen. Dieser 'Ausdruck' ist von anderen Individuen wahrnehmbar, d.h. in irgendeiner Form substantiell.
  8. Sprechen bedeutet primär nicht kommunizieren! Ob etwas kommuniziert wird, hängt vom 'Wahrnehmenden' ab.
  9. Wie jede andere Verhaltens-/Handlungsform kann Sprechen sekundär fixiert werden, e.g. über 'Schrift'.
  10. Sprache ist kein 'Ding an sich', sondern ein 'System (?) von 'Zeichen' für 'etwas' anderes.

1.2.3. Spezifikationen

Das sprachliche Zeichen (hier stark vereinfacht): Wenn 'Sprache' wahrgenommen wird, dann wird im Wahrnehmenden 'etwas' ausgelöst, das anders ist als das Wahrgenommene.

X steht für Y.

Ergo: Sprache ist zunächst ein deiktisches (Appell-)System, das den Wahrnehmenden 'auf etwas anderes' hinweist. Sprache ist dann ein Wissenssystem, wenn der Wahrnehmende weiß, was das 'andere' ist, auf das das Wahrgenommene hinweist.

Sprache und Wahrnehmung

Grundlage:


1.2.4. Frage: Was ist das 'eine', was ist das 'andere'?

A) Das Eine:
Causa formalis: Sprache hat eine bestimmte Form, die sie von anderen Verhaltensformen unterscheidet.

Sensoriktypen
Sinnes'eindruck' (Sensoriktypen)

Unterschiede zwischen Zeichen'sprache' und gesprochener 'Sprache' (stark vereinfacht):


  Zeichensprache Gesprochene Sprache
Produktion Gestik ∼ Mimik Atmungsbasierte Artikulation
Rezeption Primär visuell basiert Primär auditiv basiert
Basierung Nicht vitales System Vitales System

Festlegung: das 'Eine' der 'Sprache' (zu: sprechen) ist ein geregeltes System der Atmungshemmung und Atmungsmanipulation (Motorik) → Formseite der Sprache.

Steuerungsfaktoren:
  • Atmung
  • Muskuläre Aktivitäten im Bereich der Atmung (Lunge → Lippe/Nase)

Ergo: Sprechen ist 'etwas verlauten' (→ Phonetik, als 'geregeltes' System: Phonologie)

B) Das 'Andere':
Sprachliche Äußerungen sind nicht ‚Abbildungen‘ etc. von realen ‚Vorgängen‘ in der Welt, sondern die symbolisch fixierte Kopplung von Artikulationsmustern (‚Sprechen‘) und über Wahrnehmung/ Erfahrung erstellten ‚Bildern‘ (der Welt).

GANZ VEREINFACHT:

‚Etwas passiert‘ in der Welt
[NB: BILD hier nicht als statische Abbildung, sondern als Abfolge von Bildern oder ‚dynamisches Bild‘].

Ergo: Ein Geschehen in der Welt wird zum (vorgestellten) Ereignis, wenn ich das Geschehen wahrnehme (→ Sinneswahrnehmung) oder imaginiere [etwa in Erzählungen].

Grundlage: Äußerungen sind das 'nach Außen bringen' der 'Abdrücke' von 'Eindrücken', d.h. ein Bild dessen, was 'nach Innen gebracht wird' (Wahrnehmung):

Wahrnehmung

Sprachliches Zeichen:

Sprachliches Zeichen

Das 'Andere' ist also ein 'Bild' von Außenreizen, das mit einem gelernten Artikulationsmuster korreliert werden kann.

1.2.5. Beziehungstypen

Ikonisch (gr. εικών "Ebenbild; bildliche Darstellung; Bild")
Die Form bildet Teile der Inhaltsseite direkt ab (etwa Kukuck). Die Form/Inhalts-Beziehung ist also motiviert.
Symbolisch (gr. συμβάλλω "ich füge zusammen")
Ursprünglich: In zwei Teile geteilter Gegenstand (e.g. Knochen), der an zwei Parteien oder Menschen verteilt wurde, um sich so wieder zu erkennen (> Zusammenfügung).
Daraus bei Aristoteles (de interpretatione):
  • Zusammenfügung von "Vorgängen in der Seele" (= Kognition) und sprachlichen Ausdrücken als das "zur Sprache Gekommene".
  • (Charles Peirce): Symbole als konventionalisierte Beziehung zwischen Form und Inhalt (nicht motiviert).
Indexal / Deiktisch / Symptomatisch:
Eine Form weist auf etwas anderes hin ohne mit diesem unmittelbar verbunden zu sein. Etwa: [da:] = Hinweis auf etwas anderes, was die Vorstellung eines Baumes, Autos, Menschen etc. sein kann.

Da Sprachen unterschiedliche Artikulationsroutinen zeigen und diese erlernt werden müssen, sind Sprachen großteils (!), aber nicht (!) durchgängig symbolische Zeichensysteme.

1.2.6. Das Sprachliche Zeichen (SZ)

Grundsätzlich gilt also:

(Basales) Sprachliches Zeichen (SZ) [auch: Konstruktion]

Sprachliches Zeichen allgemein

Vgl. Edward Sapir (1884-1939):

Language is a purely human and non-instinctive method of communicating ideas, emotions, and desires by means of a system of voluntarily produced symbols. These symbols are, in the first instance, auditory and they are produced by the so-called “organs of speech”. [Sapir 1921. Language. An Introduction to the Study of Speech. San Diego / New York / London: Harcourt Brace & Company, S. 8]

1.2.7. Literatur (Auswahl!)

Bloomfield, Leonard 1933. Language. New York: Henry Holt & Company.
Borsche, Tilman (Hrsg.) 1996. Klassiker der Sprachphilosophie: von Platon bis Noam Chomsky. München: C. H. Beck.
Chomsky, Noam 1986. Language and Mind. New York: Harcourt Brace & World.
Collinge, N. E. (ed.) 1990. An Encyclopedia of Language. London / New York: Routledge.
Coseriu, Eugenio 1988. Einführung in die Allgemeine Sprachwissenschaft. Tübingen: Francke.
Hoffmann, Ludger (Hrsg.) 1996. Sprachwissenschaft. Ein Reader. Berlin / New York: Walter de Gruyter.
Linke, Angelika, Markus Nussbaumer, Paul R. Portmann 19963. Studienbuch Linguistik. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
Lyons, John 1981. Language and Lingusitics. An Introduction. Cambridge: Cambridge University Press.
Sapir, Edward 1949 [1921]. Language. An Introduction to the Study of Speech. London / New York / San Diego: Harcourt Brace & Company. (dt. 1972 [1961]. Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache. München: Max Hueber)
Pinker, Steven 1996. Der Sprachinstinkt – Wie der Geist die Sprache bildet. München: Kindler.
Saussure, Ferdinand de 19313. Course de Linguistique Générale. Paris : Payot.
(dt. 1931. Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin / Leipzig: Walter de Gruyter)
Schulze, Wolfgang 2010. Reduktionismus in den Sprachwissenschaften. Slowakische Zeitschrift für Germanistik 10 (in Druck). http://www.lrz-muenchen.de/~wschulze/redling.pdf

Lexika:

Asher, R. E. (ed.) 1993. The Encyclopedia of Language and Linguistics. 10. Vols. Oxford: Pergamon Press.
Bright, William (ed.) 1992. International Encyclopedia of Linguistics. New York / Oxford: Oxford University Press.
Bußmann, Hadumod 19902. Lexikon der Sprachwissenschaft. Suttgart: Kröner (eng. 1996. Routledge Dictionary of Language and Linguistics. London / New York: Routledge)
Crystal, D. 19913. A Dictionary of Linguistics and Phonetics. Oxford UK / Cambridge MA: Basil Blackwell.
Glück, Helmut (Hrsg.) 1993. Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart / Weimar: Metzler.
Kluge, Friedrich 199923. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. bearb. v. Elmar Seebold. Berlin / New York: Walter de Gruyter.
Lewandowski, Theodor 19905. Linguistisches Wörterbuch. Heidelberg / Wiesbaden: Quelle & Meyer, UTB.
Price, G. (ed.) 2000. Encyclopedia of the Languages of Europe. Oxford UK / Malden MA: Blackwell.
Trask, R. L. 1993. A Dictionary of Grammatical Terms in Linguistics. London / New York: Routledge.

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